Wenn es darum geht, Mut zu entwickeln, haben Schulen eine entscheidende Rolle. Das findet jedenfalls EKD-Präses Anna-Nicole Heinrich. Wir sprachen mit ihr über besonders mutige Lebensentscheidungen, über Empowerment und darüber, was Mut mit Evangelisch-Sein zu tun hat.
Frau Heinrich, Mut und Schule – wie passt das aus Ihrer Sicht zusammen?
Anna-Nicole Heinrich: Schule war für mich biographisch die erste Möglichkeit, selbst Entscheidungen zu treffen. Gerade wenn es um Schulwechsel ging, um Abschlüsse, darum, Kurse zu wählen. Das sind erste Lebensumbruchsentscheidungen, die damals oft viel Mut erforderten.
In meiner Schulzeit gab es viele Leute, die sich extrem mutig mit ihren Positionen eingebracht haben, obwohl sie formal eigentlich keine Rechte hatten. Schülermitverantwortungen hatten aus meiner Sicht damals etwas von Scheinpartizipation. Ob wirklich etwas durchgesetzt wurde, lag am Ende an der Gunst der Lehrer*in und der Schulleitung. Die Schülermitverwaltung hatte kein autonomes Selbstbestimmungsrecht – vielleicht ist das heute anders. Der Schutzraum Schule kann in jedem Fall ein gutes Erprobungsfeld sein, um zu sehen, wie mutig und wie radikal ich meine Positionen einbringen kann.
Wie können Schulen dazu beitragen, Schüler*innen mutiger zu machen?
Schulen können dabei eine wichtige Rolle spielen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ganz viele junge Leute sich scheuen, darüber zu sprechen, was sie gut können – obwohl sie sich super vielschichtig engagieren. Das Empowerment, selbstbewusst über die eigenen Kompetenzen zu sprechen – das macht mutig, gerade in Situation, wo man vor der Entscheidung steht, traue ich mich das oder traue ich mich das nicht. Um das zu erkennen, braucht es Empowerment, und dafür ist die Schulzeit ganz wichtig. Denn in den Schulen, können Lehrkräfte den Schüler*innen die Möglichkeit geben, zu reflektieren: Wo sind deine Stärken? Ihnen zusprechen: Nimm deine Stärken richtig wahr und nicht immer nur deine Schwächen.
Was hat Sie persönlich ermutigt oder – wie Sie sagen: empowert, so dass Sie nun das Amt der Präses der EKD-Synode bekleiden?
Bei mir war das die Jugendarbeit. Das war der Grund, warum ich bei Kirche geblieben bin, warum ich das so cool fand. Da war immer jemand, der gesagt hat: Ich trau dir das zu. Also trau dich.
So ging mir das auch bei meiner Kandidatur zur Präses der EKD-Synode. Ich habe mich gefragt, welche Kernkompetenzen brauche ich da? Moderieren – krass, hab ich gelernt in der Jugendarbeit. Check. Die Kompetenz habe ich. Und am Ende habe ich gar nicht so viel Mut gebraucht, um mich zur Wahl zu stellen weil mir klar war, ich muss das nicht alleine machen. Da ist eine Synode, die hat Bock drauf, die sagt: Anna, come on! Let’s try it! Wir machen das zusammen. Aber ich finde immer noch, dass die Kirche verdammt mutig war, so ein freies Radikal mitten in ihr System zu setzen.
Haben Schulen in evangelischer Trägerschaft eher Potenzial, um Schüler*innen zu empowern?
Ich glaube schon, weil es unser christliches Grundverständnis ist: Wir sind Kirche, um für den Menschen da zu sein, ihn oder sie in die Mitte zu stellen, die Botschaft nahe zu bringen. Das Individuum wahrzunehmen mit seinen Stärken. Das kann an Schulen in evangelischer Trägerschaft gut stattfinden. Wir haben die christliche Grundüberzeugung, dass jeder Mensch, so wie er ist, wertvoll ist, etwas Wertvolles an sich hat.
Und es gibt an diesen Schulen eine größere Freiheit, Neues auszuprobieren. Zu sagen, dass ist ein Thema, das ist dran, das probieren wir aus. Die Agilität, die Schulen in evangelischer Trägerschaft haben, ist ein riesiger Gelingensfaktor.
Ist Mut etwas typisch Evangelisches?
Ich würde sagen, jeder kann mutig sein, als das ist nichts typisch Evangelisches, aber wir haben schon nen reichen Schatz an mutigen Menschen und Geschichten im Christentum. Ich hatte kürzlich ein richtig cooles Gespräch mit einer Klimaaktivistin aus Großbritannien. Sie hat zum Thema Klimaaktivismus ein schönes Bild von Jesus gezeichnet. Sie hat gesagt, wir müssen unsere Ziele viel radikaler verfolgen, so wie Jesus das getan hat. Er hat Tische umgeworfen, ist angeeckt und trotzdem für seine Überzeugung eingestanden. Wir haben da echt ein mutiges Vorbild mit Jesus, das uns an ganz vielen Stellen zeigt, wie schwer es sein kann, für seine Sachen einzustehen, aber eben auch, wie es einen voranbringt.
Mut zieht sich durch die gesamte christliche Geschichte hindurch – von der Entstehung bis heute. Es ist ja heute auch schon mutig zu sagen, ich bin Christin, ich engagiere mich in der Kirche, ich habe da ein leitendes Amt. Generell können Religionen ziemlich empowernd sein, gerade in Situationen, wo man eine mutige Entscheidung trifft, mit der man auch scheitern kann.
Ist Empowerment eine Voraussetzung für Mut?
Ja, Mut muss man lernen. Empowerment ist wichtig, damit der Mut an den richtigen Stellen eingesetzt und man nicht zu oft übermütig wird. Feedback- oder Empowerment-Erfahrungen geben ein Gefühl dafür: Wo lohnt es sich, mutig reinzugehen und wo vielleicht auch nicht. Empowerment hat immer etwas davon, dass man das nicht alleine macht. Dass man nicht alleine mutig sein muss, sondern weiß, da sind andere, die wollen mit-mutig sein.
Wo bräuchte die evangelische Kirche mehr Mut?
Auf alle Fälle bei der Kommunikation und Ansprache gegenüber ihren Mitgliedern und auch gegenüber Menschen, die prinzipiell ansprechbar wären. Wir als Kirche sind da zu unmutig. Wir bleiben in unseren gewohnten Bildern, unseren gewohnten Narrativen, unseren gewohnten Kommunikationsstrukturen und wirken dadurch etwas langweilig.
Hätten die Schulen in evangelischer Trägerschaft Potenzial, um mehr von der Botschaft nach außen zu bringen?
Die Schulen haben vor allem ein Riesenpotenzial als Erprobungsraum. Gerade, weil in Schulen in evangelischer Trägerschaft ganz viele unterschiedliche Schüler*innen zusammenkommen, nicht nur evangelische. Die sind alle ein Mini-Commitment eingegangen, nämlich auf die evangelische Schule zu gehen. Eine grund-positive Einstellung zum Evangelisch-Sein muss ja da sein. Ich glaube, da sind die Schulen in evangelischer Trägerschaft mega cool, weil eine extrem bunte Gruppe an Menschen zusammenkommt – aber eben unter einem Commitment-Dach, wo sie ansprechbar sind auf unsere Themen.
Text: Christiane Bertelsmann, Fotos: Martin Kirchner
Zur Person
Anna-Nicole Heinrich wurde 1996 geboren und wuchs im bayrischen Landkreis Schwandorf auf. Getauft wurde sie als Schulkind gemeinsam mit ihrer Mutter. Sie ist seit 2021 Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland. Von 2015 bis 2019 studierte sie Philosophie an der Universität Regensburg. Zurzeit absolviert sie dort den Masterstudiengang Menschenbild und Werte. Von 2019 bis 2020 war sie Wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Sozialethik, seit 2020 ist sie Wissenschaftliche Hilfskraft bei der Frauenbeauftragten der Universität Regensburg. In Regensburg lebt Anna-Nicole Heinrich mit ihrem Ehemann in einer Vierer-Wohngemeinschaft.