Chancen und Herausforderungen von Künstlicher Intelligenz für eine inklusiv gedachte Schullandschaft: Das Thema unserer Fachtagung „Inklusion und KI“ beschäftigte vergangene Woche rund 120 Teilnehmende. Auf dem Campus der Evangelischen Hochschule Berlin diskutierten Teilnehmende und Schüler*innen zweier Evangelischer Schulen mit Fachexpert*innen aus Forschung und Praxis über Chancen und Herausforderungen KI-gestützter Technik in Schulen besonders mit Blick auf Inklusion. Das Spannende an dem Tag: eine Mischung aus Vorträgen und stärker interaktiven Formaten; aus Theorie und Praxis; aus ethischer, theologischer, wissenschaftlicher und pädagogischer Sicht. Erfahren Sie hier mehr über einige Highlights der Veranstaltung, die durch die Stiftung der Evangelischen Bank und die vrk gefördert wurde.
ChatGTP, Snapchat und Co.
Die Fachtagung startete mit einem Austausch der Kernzielgruppe für KI: Sieben Schüler*innen der Evangelischen Schule Berlin Zentrum und der Evangelischen Schule Köpenick leiteten zusammen mit den Moderator*innen OKR Stefanie Hoffmann (EKD) und Prof. Dr. Michael Komorek (EHB) kritisch in das Thema der Fachtagung ein. Die Impulse der Jugendlichen im Alter von 14 bis 18 Jahren spiegelten die Realität an deutschen Schulen wider, was Chancen und Risiken KI-gestützter Technik angeht. Alle Jugendlichen hatten eigene Erfahrungen mit Künstlicher Intelligenz in Schule – nur nicht unbedingt durch die Schule thematisiert oder vermittelt. ChatGPT, Snapchat, Character.ai oder generative Bildbearbeitungsprogramme sind tägliche Realität bei der Erstellung der Hausaufgaben, Prüfungsvorbereitungen und auf dem Schulhof. Die meisten Schüler*innen gaben an, KI zur Unterstützung bei der Informationssuche zu nutzen.
Sie sahen aber gleichzeitig die Gefahr, dass es für Lehrkräfte immer schwieriger wird, zu beurteilen, ob eine Klassenarbeit von einem/einer Schüler*in verfasst wurde oder von einer KI wie ChatGTP. Diese Annahme wird von der Tendenz unterstrichen, dass in den Schulen persönliche Prüfungs- oder Präsentationsgespräche immer wichtiger werden, in denen geprüft wird, ob beispielsweise eine Hausarbeit selbst erstellt wurde oder eben nicht. Auf der Fachtagung wurden die Jugendlichen als KI- und Inklusionsdetektive wahrgenommen, deren Meinung sehr kritisch und bereichernd war. Für sie ist KI aus Schule nicht mehr wegzudenken und wird das Bildungswesen nachhaltig verändern. Es geht jetzt darum, sich darauf vorzubereiten, wie wir alle damit umgehen wollen und wie es dabei gelingen kann, Zugänge zu Bildung gerechter zu gestalten und damit KI als einen Motor für Inklusion einzusetzen.
Inklusive Bildung in der Zukunft – eine protestantische Reflexion
Dass KI in (evangelischen) Schulen schon längst da ist, sieht auch Prof. Dr. Birte Platow. Sie forscht seit 2019 an der TU Dresden u.a. zum Thema KI und verantwortet dort in einer Forschungsgruppe das Thema „Responsible AI“. Zu der grundlegenden Fragestellung: „Wie erhalte ich gleichberechtigte Teilhabe und Bildung für alle?“ zog Platow ein Gedankenexperiment aus dem Buch „Life 3.0“ von Max Tegmark heran und fesselte damit den gesamten Hörsaal. Tegmark beschreibt in seinem Buch, wie eine KI namens „Prometheus“ die Zukunft des Lebens in unserem Universum verändern wird. Wird sie uns ins Verderben stürzen oder zur Weiterentwicklung des Menschen beitragen? Drastisch durchdringt Tegmark die Frage, was vom Menschen bleibt, wenn er Maschinen entwickelt, die die Macht übernehmen könnten. Birte Platows Blick auf das, was in deutschen Schulen an Künstlichen Intelligenzen zur Lehre und Wissensvermittlung tatsächlich eingesetzt wird, fiel gar nicht so schlecht aus. So steht Lehrpersonen mit „Cognii“ beispielsweise eine KI zum individuellen Tutoring zur Verfügung oder mit „Gradescope“ ein Online- und KI-gestütztes Bewertungstool für die Hochschulbildung. Auch im Bereich Inklusion stehen den Lehrer*innen zahlreiche KIs zur Unterstützung ihrer Arbeit zur Verfügung: Zum Beispiel „Seeing AI“ von Microsoft zur automatischen Bildbeschreibung, „Summ AI“ unterstützt bei der automatischen Textadaption bzw. Übersetzung in leichte Sprache und den „DeepL“ können Pädagog*innen für eine Echtzeitübersetzung nutzten.
Fazit: KI hat das Bildungswesen aus Lehrer*innen und Schüler*innenperspektive längst erreicht und wird die Arbeit in Schule für alle Beteiligten verändern. Dabei kann sie – richtig genutzt – für ein Mehr an Bildungsgerechtigkeit sorgen und die Brücke, zwischen Objekt/Gesellschaft und Subjet/dem einzelnen Menschen mit individuellen Bedarfen, schlagen.
Protestantischer Intellekt vs. Künstliche Intelligenz
Das Bild des „Prometheus“ griff Prof. Dr. Jörg Kopecz in seinem Vortrag zwar nicht namentlich auf – inhaltlich konnte er den Querverweis jedoch gut herstellen. Der Professor für Unternehmensführung & digitales Transformationsmanagement an der FOM Hochschule für Ökonomie und Management und geschäftsführender Gesellschafter des iTM- Institut für Transformationsmanagement zeichnete die Entwicklung von KI seit den 1950er Jahren. Er endete mit offenen Fragen nach der Übertragung von „menschlichen Rechten“, Urheberschaft und individueller Haftung auf autonome Maschinen. Sein Vortrag behandelte ganz grundsätzliche Themen, die eine protestantische Ethik berühren und möglicherweise einen spezifischen Intellekt einfordern.
Schlechter Input = schlechter Output
Spannend für die Teilnehmenden war auch ein einstündiger Science-Slam, ein Kurzvortragsturnier, bei dem drei Mitarbeitende an Hochschulen ihre aktuellen Forschungensthemen vorstellten. „Welche Welt wollen wir mit einer KI abbilden?“ Diese Frage stellte Dr. Hermann Diebel-Fischer (TU Dresden) in seinem Vortrag „Modellbildung und Weltverstehen“. Anschaulich verdeutlichte er dem Publikum den Zusammenhang zwischen der Qualität von Trainingsdaten, mit denen eine KI unterfüttert wird und deren Output. Jede KI muss mit trainingsbasierten Daten angereichert werden, um Datensätze aufzubauen, zu „funktionieren“ und sich weiterzuentwickeln. „Augen auf, hier kann viel schief gehen“, so Diebel-Fischer. „Schlechter Input an Daten bedeutet automatisch einen schlechten Output durch die KI.“ Schränkt man den Wirkungskreis einer KI thematisch auf den Bereich Inklusion ein, verschärft sich dieses Problem noch. So wird Inklusion durch viele KIs bildlich sehr reduziert und oft stereotyp dargestellt. Hieran ist jedoch nicht die KI an sich schuld, sondern vielmehr die Daten und Bilder, mit denen diese KI trainiert wurde. KI verstärkt Reduzierungen und Stereotype. Unbedacht verwendet, perpetuiert sie systemische Benachteiligungen und Schieflagen. Deshalb ist es ganz entscheidend, immer wieder inklusiv zu handeln und sich zu hinterfragen, um damit Daten zu Verfügung zu stellen, die dieser Perpetuierung entgegenwirken können.
Einsatzmöglichkeiten einer digitalen Förderplanung im inklusiven Unterricht
Praxisnähe durch und durch: Sechs Resonanzräume luden die Teilnehmenden zu Impulsvorträgen mit anschließendem Austausch zu verschiedenen Einsatzgebieten KI-gestützter Technik in Schulen ein. So stellt Friedo Scharf von Inklusion Digital in seinem Workshop die Möglichkeiten einer digitalen Förderplanung im Unterricht mit der Web-App SPLINT vor. Aus der Praxis für die Praxis: Scharf und sein Team begannen 2020 die Web-App zu programmieren, jetzt wird SPLINT bereits an 2.000 bundesweit erfolgreich eingesetzt. Was ist das Erfolgsrezept dieser Web-App? „Diklusion bedeutet für mich die programmatische Unterstützung von Inklusion in Schule“, so Friedo Scharf über seine Motivation hinter der App-Entwicklung. Scharf ist selbst Sonderpädagoge und weiß, wovon er spricht: „Die Herausforderung unseres Schulsystems ist, dass es zu wenig Förderlehrkräfte gibt, die zu viele Förderpläne erstellen müssen. Da stellte sich die Frage nach einer digitalen Unterstützung bei der Förderplanung, um zeitliche Ressourcen zu gewinnen.“ Und genau hier liegen die Stärken von SPLINT. Die App funktioniert wie eine digitale Personenakte, mit der Förderziele vereinbart und konkrete Unterrichtssituationen beschrieben werden können. Die Förderplanerstellung funktioniert stets tagesaktuell und alle Eintragungen von Lehrkräften sind für alle Beteiligten einseh- und nachvollziehbar. Die Personenakte muss also nicht mehr händisch im Kollegium „die Runde“ machen, sondern die Kommunikation verläuft digital und ohne zeitlichen Verzug direkt über die App.
Fazit und weitere Resonanzräume
SPLINT kann hervorragende Förderpläne schreiben und somit Förderpläne für die Behörden nachvollziehbarer machen. Auch führt SPLINT dazu, dass genau die Lehrkräfte die Planung machen, die tatsächlich mit dem jeweiligen Kind arbeiten – es kommt zu einer Entlastung der Sonderpädagog*innen. Die KI sollten Pädagog*innen jedoch nur als Vorschlaggeber nutzen – es braucht immer die sonderpädagogische Draufsicht. Weitere spannende Themen wurden von Vertretern von Hochschulen und dem Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz vorgestellt: Prof. Dr. Maike Schindler von der Universität zu Köln, Prof. Dr. Ingo Bosse von der HfH in Zürich, Dr. Claudia Loitsch von der Universität Dresden, Dr. Robert Kruschel aus Leipzig und Rolf Feichtenbeiner vom DFKI brachten jeweils ihre Erfahrungen von Spracherkennung bis praktischer Nutzung ein.
Inklusion durch KI?
Kritische Überlegungen zu Datenethik und Empowerment in der Mensch-Maschine-Interaktion stellte Prof. Dr. Rainer Mühlhoff (Universität Osnabrück) in den Mittelpunkt seines Vortrags und beleuchtete damit das sensible Thema der Datensicherheit. Sehr realistisch und kritisch verdeutlichte er dem Plenum, dass wir alle mittlerweile Teil von KI-Systemen sind. Nicht durch die Forschung und Wissenschaft konnten Bild- und Spracherkennungssoftware in den letzten 10-15 Jahren so weit entwickelt werden, sondern durch uns und unser Nutzungsverhalten. Nur durch Millionen Nutzer*innen, die die verschiedensten KIs jeden Tag „portionsweise“ durch ihr Nutzungsverhalten am Smartphone trainieren, sind KIs heute so weit entwickelt. So lernt Google bei jeder Suche eines Nutzers durch das Tracking relevanter Daten dazu, die in den Searchlinks implementiert sind. Oder eine Emotionserkennung durch Spotify: Die KI zieht durch die Musik, die wir gerade hören, Rückschlüsse auf Themenbereiche wie Cooking, Living oder Gesundheit – und versorgt uns prompt mit massgeschneiderter Werbung.
Wie kann KI in der Schule thematisiert werden?
Laut Mühlhoff gibt es hier zwei Möglichkeiten: Es kann Schule mit KI geben, wenn KI-basierte Technik als Werkzeug für Lehrkräfte und Schüler*innen eingesetzt wird. Oder es gibt Schule über KI, wenn Lehrkräfte das Thema lediglich im Unterricht behandeln. Generell sollten Schulen KI nach einem dreistufigen Modell einsetzen:
- Stufe 1: KI als Werkzeug zur Erleichterung mechanischer Tätigkeiten einsetzen, wie zum Beispiel die automatische Transkription von Audio. Da diese Stufe am häufigsten verwendet wird, konnte man auch schon die ersten Risiken hierbei identifizieren. Techno-Fixes bezeichnet die Abhängigkeit von der KI, anstatt die eigene Sozialkompetenz zu verwenden. Als Folge kann man irgendwann nicht mehr „Nein“ sagen zur KI.
- Stufe 2: KI zur Augmentierung intellektueller Tätigkeiten verwenden, wie beispielsweise eine Vor-Korrektur von Aufgaben.
- Stufe 3: KI zur vollständigen Automatisierung von intellektuellen Tätigkeiten einsetzen, wovon aus wissenschaftlicher Sicht dringend abzuraten ist.
Schulbildung in unserer heutigen Zeit sollte KI-Kompetenzen vermitteln. „Schule ist der beste Ort, um Fake-Videos oder Fake-Bilder auszuprobieren, zu erstellen und lernen, zu erkennen“, so Mühlhoff. Medienkompetenz kann demnach nicht durch Verweigerung, sondern nur durch moderierte Anwendung in den Schulen entstehen. Dabei hielten Teilnehmende im Nachgang auch fest: Schule kann nicht alles leisten – die tatsächliche Umsetzung und der pragmatische Umgang der Gesellschaft mit Schule und das Zusammenspiel von Schule und Gesellschaft bedürfen noch großer Abstimmung.
Wie eine praktische Nutzung, besonders auch in einem inklusiven Kontext, von KI-Systemen aussehen kann, wurde zum Abschluss in vier Demonstrationen hautnah erlebbar. Vertreter des Fraunhofer Instituts, der Firma Microsoft und des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz ermöglichten spannende Einblicke in die Potentiale: Das Erlernen vom Umgang mit Konfliktsituationen in einem inklusiven Klassenraum; die Nutzung eines Roboterarms, praktische Programme von Microsoft und die Bedeutung von Neuronalen Netzen.
KI-Strategie der ESS EKD
Zum Abschluss der Fachtagung warf Tobias Jarzombek-Guth, Projektleiter „Inklusion 2020+“ der ESS EKD und Organisator der Fachtagung einen kurzen Blick auf ein Folgevorhaben. Aufbauend auf den vielen Impulsen der Fachtagung möchten wir Schulen in evangelischer Trägerschaft finden, die sich auf einen 1,5 Jahre andauernden Entwicklungsprozess einlassen. Dieser soll sie befähigen, das Thema KI strategisch in der eigenen Schule zu verankern, Lösungsansätze für individuelle Fragen zu formulieren und grundsätzlich eine Sprachfähigkeit in dem Thema zu erlangen. Ein erfolgreiches Modell möchten wir dann ab 2026 auf einen größeren Teilnehmendenkreis ausweiten und damit ein Element zum Empowerment der einzelnen Schule und gleichzeitig zur Vermeidung eines „digital gap“ innerhalb der evangelischen Schullandschaft bilden. Bildungsgerechtigkeit, ein Mehr an Teilhabe und ein Abbau von strukturellen Hürden für einzelne Menschen in unseren Schulen sind Qualitätsmerkmale, die bei all diesen Überlegungen eine zentrale Rolle spielen sollen.
Die Teilnehmenden waren vom Fachtag, der Mischung der Inputs, dem Offenlegen der Spannungen auch zwischen einzelnen Bereichen und Sichtweisen sehr angetan – in der abschließenden Wortwolke wurden besonders die vielfältigen Begegnungen, neue Erkenntnisse und unerwartete Einsichten sehr geschätzt. Dr. Ina Döttinger, Geschäftungsführerin der ESS EKD, bilanziert: „Der Fachtag hat getan, was wir uns erhofft hatten: Er hat die Frage von KI und Inklusion erfahrbar gemacht; die Allgegenwärtigkeit von KI ins Bewusstsein gerufen, Begegnungen ermöglicht und uns miteinander auf den Weg gebracht, dem Thema KI gerade mit Blick auf Inklusion mit Neugier und Kritikfähigkeit, Offenheit und Gestaltungswillen gleichzeitig zu begegnen“ – ein großartiger Erfolg für alle Beteiligten, im Vorfeld und auf der Konferenz.
Fotos: Martin Weinhold